Franz Kafka. A Revaluation / Franz Kafka, von Neuem gewürdigt /
Franz Kafka
Publikationen:
Franz Kafka: A Revaluation (On the occasion of the twentieth anniversary of his death), in:
Partisan Review 11 (1944), 412-422.
Franz Kafka, von neuem gewürdigt. Übersetzt von Alice Platen. Die Wandlung 1 (1945-
1946), 1050-1062.
Franz Kafka, in: Sechs Essays, 128-149.
Franz Kafka, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 88-107.
Typoskript: Franz Kafka, von Neuem gewürdigt. 11 Seiten. Staatsarchiv Hamburg: 621-1/144_2003.
Wahrscheinlich kam die Einladung, im Sommer 1944 an den Entretiens de
Pontigny am Mount Holyoke College teilzunehmen, von Jean Wahl. Hannah
Arendt hatte ihn im Pariser Exil kennengelernt; auch er war inzwischen in
die USA geflohen. Drei Jahre lang – von 1942 bis 1944 – veranstaltete er
die genannten Treffen, die jeweils vier Wochen dauerten. Beim letzten dieser
Treffen war die erste Woche der Philosophie, die zweite der Literatur, die
dritte den bildenden Künsten und die vierte der Musik gewidmet. Auf einem
Programmentwurf ist Hannah Arendt, »femme des lettres«, für die zweite
Woche vorgesehen. Titel des geplanten Vortrags: »Franz Kafka«.
Arendts Vortrag bildete den Auftakt der Woche für die Literatur; sie trug
am 31. Juli nachmittags auf Englisch vor – nach einer Einleitung von Marc
Slonim, der die Sektion leitete. Die Entretiens waren großzügig geplant: Pro
Woche wurden sieben Vorträge gehalten, da blieb viel Zeit für Diskussionen.
Vortragssprachen waren Englisch und Französisch. An den folgenden Tagen
sprachen: »M. William Troy: Literature and the idea of crisis. (In English)«,
»M. Alan McGee: James Joyce (In English)«, »Mme Rachel Bespaloff: Quelque
remarques sur le classicism«, »M. Herbert Steiner, Souvenirs de Paul
Valery«, »Mlle Beatrice Hyslop, Romanticism and the French Revolution (In
English)« und »Helen Griffith: William Faulkner (In English)«.1
Offenbar schickte Arendt ihren Vortrag bald nach der Rückkehr nach
New York an Partisan Review, denn am 9. September 1944 schrieb ihr Philip
Rahv, einer der Herausgeber: »We like your article on Kafka very much and
are accepting it for early publication. Our present plan is to publish it in the
October issue, though as yet we cannot be entirely sure that we’ll find space
for it. You will, of course, see proofs of the article. I might say that in some
respects we don’t at all agree with your interpretation of Kafka, but we think
your point of view is interesting and well worth presenting to our readers.
What we like the most of all is the overtones of the piece and its general frame
of reference. Do you mind very much if we go ahead and make a few stylistic
changes? Your English is good but not quite idiomatic enough, and here and
there one comes upon some errors in syntax. Even so I am glad that you sent
us the piece in English rather than in German, for it is easier to correct it in
the present version than to go to the trouble of having it translated. Also, I
think it will be necessary to make a few small cuts, which, again, I hope you
won’t mind. I promise to be discreet in whatever cuts I undertake.«2
Der Essay erschien tatsächlich noch 1944; da das Typoskript des Vortrags
nicht überliefert ist, wissen wir nicht, wie stark es für die Publikation bearbeitet
wurde.
Zwei Jahre später schickte Arendt den Aufsatz an Dolf Sternberger, der
am 11. Oktober 1946 an Jaspers schrieb: »Ausserdem bin ich mit Hannah
Arendt übereingekommen, dass wir für die ›Wandlung‹ einen Essay über Kafka
(›Franz Kafka, revaluation‹) aus ›Partisan Review‹ hier übersetzen lassen,
weil er englisch geschrieben war, und keine deutsche Fassung davon existiert.
Diese Uebersetzung ist in Arbeit, und ich hoffe, dass sie noch im zwölften
Heft wird erscheinen können.« (JaPU, 658) Alice Platen, die den Vortrag
ins Deutsche übertrug, machte sich offenbar bald an die Arbeit, denn am
13. November schickte Sternberger ihr »das Manuskript mit unseren Korrekturvorschlägen
und mit den eingefügten Originalzitaten« zurück. »Anhand
der Korrekturfahnen« möchte er sich mit ihr noch zu »einem genaueren
Gespräch« treffen.3
Offenbar war Arendt mit der deutschen Fassung, wie sie dann in der
Wandlung erschien, nicht recht einverstanden, denn am 7. Januar 1947
schrieb Sternberger: »Die Korrekturen, die Sie erbeten haben, werde ich an den beiden fraglichen Manuskripten anfügen; für die Zeitschrift selbst kam
Ihr Wunsch, der sich auf den Anfang des Kafka-Aufsatzes bezieht, leider zu
spät – aber in der Buchfassung können wir’s nachholen.«4
Einem weiteren Brief Sternbergers vom 8. März 1947 ist zu entnehmen,
dass Arendt den Text nach diesen Korrekturen noch einmal bearbeitete:
»Die neue, deutschsprachige Fassung Ihres Kafka-Essays ist eingetroffen […].
Ihre unbehaglichen Empfindungen bei der Lektüre unserer Uebersetzung des
Kafka-Aufsatzes kann ich vollkommen nachfühlen, und man hat daran ein
deutliches Beispiel dafür, wie fatal es ist, in einer eigentlich fremden Sprache
schreiben zu müssen.«5
In beiden, der »eigentlich fremden« wie der eigenen Sprache, hatte der
Aufsatz weitreichende Wirkungen. Salmon Schocken zeigte die Publikation
noch einmal, wie dringlich eine amerikanische Kafka-Ausgabe war. Im
Sommer 1946 trat Arendt eine Stelle als Lektorin in seinem Verlag an; diese
Ausgabe zu betreuen, war eine ihre wichtigsten Aufgaben.6
Die Veröffentlichung in der Wandlung machte Jürgen Schüddekopf vom
Nordwestdeutschen Rundfunk auf Arendt aufmerksam. Für das Abendprogramm
am 15. April 1948 stellte er eine Sendung zusammen, in der eine
gekürzte Version des Aufsatzes aus der Wandlung ausgestrahlt wurde, auch
wenn inzwischen das Buch mit dem redigierten Text erschienen war. Aus dem
Archiv lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren:
»Donnerstag, den 15. April 1948. Franz Kafka von Jürgen Schüddekopf /
›Der Schlag ans Hoftor‹ von Franz Kafka / ›Franz Kafka, von Neuem gewürdigt‹
von Hannah Arendt / ›Aus: der Prozess‹ von Franz Kafka / Hannah
Arendt. Kafka von Neuem gewürdigt.« Zu dieser Sendung ist ein 11seitiges
Typoskript mit handschriftlichen Anmerkung und Streichungen überliefert.7
»11 Seiten« – das bedeutet, dass Arendts Aufsatz um mehr als die Hälfte
gekürzt wurde. Eine Streichung ist signifikant: »Die Generation der vierziger
Jahre und besonders diejeningen, die den zweifelhaften Vorzug hatten, unter
dem furchtbarsten Regime gelebt zu haben, das die Geschichte bisher hervorgebracht
hat, wissen, [hat erfahren] daß Kafkas Terror der wahren Natur
des Sachverhaltes entspricht, den wir Bürokratie nennen«.8
Die Wandlung muß mehrere Leserbriefe zu Arendts Aufsatz bekommen
haben, die nicht überliefert sind: »Es wird Sie übrigens interessieren, dass
der Kafka-Aufsatz einigen Lesern zu einfach war«, schrieb Sternberger am 13. Februar 1947 an Arendt. »So ganz ohne Metaphysik und Religionsphilosophie
– das hat man eben in Deutschland noch nicht gern. Ach ja! Gleichwohl
ist es nach der allgemeinen Stimmung dabei geblieben, dass Hannah
Arendt der Star der ›Wandlung‹ ist.«9
Einer dieser Leser war Hartwig von Behr,10 dem Sternberger am 13. Februar
1947 antwortete: »Was Sie zu dem Aufsatz von Hannah Arendt bemerken,
hat mich sehr interessiert; die Autorin ist philosophisch tief und gründlich gebildet
(sie studierte seinerzeit bei Karl Jaspers) und beschäftigt sich nun schon
seit etwa 20 Jahren mit Kafka – ihre Tendenz in dem gegenwärtigen Essay
war es gerade, einen elementaren Zugang zu eröffnen, wie es denn ja auch
die eigentliche und verpflichtende Aufgabe einer literarischen Interpretation
sein muss. Uebrigens werden die metaphysischen Verzweigungen hierdurch
ja keineswegs versperrt. Uns erschien gerade diese Auslegung als ein neuer
Anlauf und eine wahre Erfrischung des Verständnisses, nachdem das Werk
Kafkas bisher vielfach als ein exegetischer und spekulativer Tummelplatz
gedient hatte. Selbstverständlich wird dies nicht das letzte Wort über den
Gegenstand sein – auch nicht in der ›Wandlung‹! Die überraschende Einfachheit
der Deutung von Hannah Arendt werden Sie gewiss als das erkannt
haben, was sie in der Tat ist: nämlich als eine erworbene, destillierte letzte
Einfachheit.«11
In Hans Blumenbergs Rezension der Sechs Essays heißt es: »In einem eigenen
Essay wird das Werk von Franz Kafka als die große Symbolik des Paria
dargestellt. Noch nie ist so deutlich empfunden und ausgesprochen worden
wie hier, aus welchem Schicksal Kafkas Gestalten letztlich erstanden. Der
Mensch bei Kafka, der unter einer ihm unfaßbaren Schuld leidet, der, nach
dem Heimischwerden lechzend, schließlich ohnmächtig und erschöpft ungeheuren
Gewalten erliegt, – dieser Mensch, der Paria schlechthin, ist es, in dem
die gegenwärtige Generation sich wiedererkennt.«12
Als Arendt ihren Vortrag schrieb, konnte sie nicht auf die Bücher von
Kafka zurückgreifen, die sie vor 1933 in Deutschland gelesen hatte; ihre
Bibliothek war zu dem Zeitpunkt noch in Paris.13 Erstaunlich ist allerdings,
dass sich in Arendts nachgelassener Arbeitsbibliothek im Bard College nur
zwei Bände finden, die vor ihrer Flucht aus Europa erschienen waren: In der Strafkolonie, 1919 von Kurt Wolff in Leipzig herausgegeben, und Ein
Hungerkünstler, 1924 beim Verlag Die Schmiede in Berlin veröffentlicht.
Schlecht vorstellbar, dass Arendt keinen der großen Romane besaß;14 wie
auch der zitierte Brief Dolf Sternbergers bezeugt, hatte sie sich in der Weimarer
Zeit mit Kafka befaßt. Wie selbstverständlich ging sie in ihren Lektüren
davon aus, dass Max Brod die Romane seines Freundes in der Reihenfolge
herausbrachte, in der sie entstanden waren: Zuerst Der Prozeß (1925), dann
Das Schloß (1926) und zum Schluß Amerika (1927).
Ihren Vortrag schrieb Arendt wohl in New Yorker Bibliotheken, und vielleicht
las sie die ersten englischen Übersetzungen, die Willa und Edwin Muir
vorgelegt hatten. Als sie sich an die Arbeit machte, waren The Trial (1925),
The Castle (1930), The Great Wall of China and Other Pieces (1930) sowie
America (1938) in Londoner Verlagen erschienen. In den USA kamen diese
Übersetzungen dann 1940 (America) und 1944 (The Trial) als Lizenzausgaben
heraus. Für die Überarbeitung des deutschen Texts konnte Arendt sich
auf Bände der Kafka-Ausgabe stützen, die gerade beim New Yorker Schocken
Verlag erschienen war.
Schedules, 1944. Entretiens de Pontigny records, Archives and Special Collections,
Mount Holyoke College, South Hadley, MA. Vgl. auch Artists, Intellectuals, and World War II: The Pontigny Encounters at Mount Holyoke. Hg. von Christopher E. G. Benfey
und Karen Remmler. Amhurst 2006.
Der nächste Absatz legt nahe, dass Rahv mit Arendt noch nicht näher bekannt war; er
erinnert an ein Treffen im Büro des Contemporary Jewish Record, wo er gearbeitet hatte
und »where we discussed the situation in Palestine and your projected article on it.«
Doch nun »I have returned to my old love — Partisan Review.«
In Arendts Bibliothek findet sich der Prozeß in der Ausgabe von 1935, die Max Brod im
Schocken Verlag in Berlin herausgegeben hatte, doch war dieses Buch damals noch nicht
in ihrem Besitz. Vorn im Buch steht: »Kurt New York 4 /30 /45«.
Franz Kafka. A Revaluation / Franz Kafka, von Neuem gewürdigt / Franz Kafka
Publikationen:
Franz Kafka: A Revaluation (On the occasion of the twentieth anniversary of his death), in: Partisan Review 11 (1944), 412-422.
Franz Kafka, von neuem gewürdigt. Übersetzt von Alice Platen. Die Wandlung 1 (1945- 1946), 1050-1062.
Franz Kafka, in: Sechs Essays, 128-149.
Franz Kafka, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 88-107.
Typoskript: Franz Kafka, von Neuem gewürdigt. 11 Seiten. Staatsarchiv Hamburg: 621-1/144_2003.
Wahrscheinlich kam die Einladung, im Sommer 1944 an den Entretiens de Pontigny am Mount Holyoke College teilzunehmen, von Jean Wahl. Hannah Arendt hatte ihn im Pariser Exil kennengelernt; auch er war inzwischen in die USA geflohen. Drei Jahre lang – von 1942 bis 1944 – veranstaltete er die genannten Treffen, die jeweils vier Wochen dauerten. Beim letzten dieser Treffen war die erste Woche der Philosophie, die zweite der Literatur, die dritte den bildenden Künsten und die vierte der Musik gewidmet. Auf einem Programmentwurf ist Hannah Arendt, »femme des lettres«, für die zweite Woche vorgesehen. Titel des geplanten Vortrags: »Franz Kafka«.
Arendts Vortrag bildete den Auftakt der Woche für die Literatur; sie trug am 31. Juli nachmittags auf Englisch vor – nach einer Einleitung von Marc Slonim, der die Sektion leitete. Die Entretiens waren großzügig geplant: Pro Woche wurden sieben Vorträge gehalten, da blieb viel Zeit für Diskussionen. Vortragssprachen waren Englisch und Französisch. An den folgenden Tagen sprachen: »M. William Troy: Literature and the idea of crisis. (In English)«, »M. Alan McGee: James Joyce (In English)«, »Mme Rachel Bespaloff: Quelque remarques sur le classicism«, »M. Herbert Steiner, Souvenirs de Paul Valery«, »Mlle Beatrice Hyslop, Romanticism and the French Revolution (In English)« und »Helen Griffith: William Faulkner (In English)«.1
Offenbar schickte Arendt ihren Vortrag bald nach der Rückkehr nach New York an Partisan Review, denn am 9. September 1944 schrieb ihr Philip Rahv, einer der Herausgeber: »We like your article on Kafka very much and are accepting it for early publication. Our present plan is to publish it in the October issue, though as yet we cannot be entirely sure that we’ll find space for it. You will, of course, see proofs of the article. I might say that in some respects we don’t at all agree with your interpretation of Kafka, but we think your point of view is interesting and well worth presenting to our readers. What we like the most of all is the overtones of the piece and its general frame of reference. Do you mind very much if we go ahead and make a few stylistic changes? Your English is good but not quite idiomatic enough, and here and there one comes upon some errors in syntax. Even so I am glad that you sent us the piece in English rather than in German, for it is easier to correct it in the present version than to go to the trouble of having it translated. Also, I think it will be necessary to make a few small cuts, which, again, I hope you won’t mind. I promise to be discreet in whatever cuts I undertake.«2
Der Essay erschien tatsächlich noch 1944; da das Typoskript des Vortrags nicht überliefert ist, wissen wir nicht, wie stark es für die Publikation bearbeitet wurde.
Zwei Jahre später schickte Arendt den Aufsatz an Dolf Sternberger, der am 11. Oktober 1946 an Jaspers schrieb: »Ausserdem bin ich mit Hannah Arendt übereingekommen, dass wir für die ›Wandlung‹ einen Essay über Kafka (›Franz Kafka, revaluation‹) aus ›Partisan Review‹ hier übersetzen lassen, weil er englisch geschrieben war, und keine deutsche Fassung davon existiert. Diese Uebersetzung ist in Arbeit, und ich hoffe, dass sie noch im zwölften Heft wird erscheinen können.« (JaPU, 658) Alice Platen, die den Vortrag ins Deutsche übertrug, machte sich offenbar bald an die Arbeit, denn am 13. November schickte Sternberger ihr »das Manuskript mit unseren Korrekturvorschlägen und mit den eingefügten Originalzitaten« zurück. »Anhand der Korrekturfahnen« möchte er sich mit ihr noch zu »einem genaueren Gespräch« treffen.3
Offenbar war Arendt mit der deutschen Fassung, wie sie dann in der Wandlung erschien, nicht recht einverstanden, denn am 7. Januar 1947 schrieb Sternberger: »Die Korrekturen, die Sie erbeten haben, werde ich an den beiden fraglichen Manuskripten anfügen; für die Zeitschrift selbst kam Ihr Wunsch, der sich auf den Anfang des Kafka-Aufsatzes bezieht, leider zu spät – aber in der Buchfassung können wir’s nachholen.«4
Einem weiteren Brief Sternbergers vom 8. März 1947 ist zu entnehmen, dass Arendt den Text nach diesen Korrekturen noch einmal bearbeitete: »Die neue, deutschsprachige Fassung Ihres Kafka-Essays ist eingetroffen […]. Ihre unbehaglichen Empfindungen bei der Lektüre unserer Uebersetzung des Kafka-Aufsatzes kann ich vollkommen nachfühlen, und man hat daran ein deutliches Beispiel dafür, wie fatal es ist, in einer eigentlich fremden Sprache schreiben zu müssen.«5
In beiden, der »eigentlich fremden« wie der eigenen Sprache, hatte der Aufsatz weitreichende Wirkungen. Salmon Schocken zeigte die Publikation noch einmal, wie dringlich eine amerikanische Kafka-Ausgabe war. Im Sommer 1946 trat Arendt eine Stelle als Lektorin in seinem Verlag an; diese Ausgabe zu betreuen, war eine ihre wichtigsten Aufgaben.6
Die Veröffentlichung in der Wandlung machte Jürgen Schüddekopf vom Nordwestdeutschen Rundfunk auf Arendt aufmerksam. Für das Abendprogramm am 15. April 1948 stellte er eine Sendung zusammen, in der eine gekürzte Version des Aufsatzes aus der Wandlung ausgestrahlt wurde, auch wenn inzwischen das Buch mit dem redigierten Text erschienen war. Aus dem Archiv lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren:
»Donnerstag, den 15. April 1948. Franz Kafka von Jürgen Schüddekopf / ›Der Schlag ans Hoftor‹ von Franz Kafka / ›Franz Kafka, von Neuem gewürdigt‹ von Hannah Arendt / ›Aus: der Prozess‹ von Franz Kafka / Hannah Arendt. Kafka von Neuem gewürdigt.« Zu dieser Sendung ist ein 11seitiges Typoskript mit handschriftlichen Anmerkung und Streichungen überliefert.7 »11 Seiten« – das bedeutet, dass Arendts Aufsatz um mehr als die Hälfte gekürzt wurde. Eine Streichung ist signifikant: »Die Generation der vierziger Jahre und besonders diejeningen, die den zweifelhaften Vorzug hatten, unter dem furchtbarsten Regime gelebt zu haben, das die Geschichte bisher hervorgebracht hat, wissen, [hat erfahren] daß Kafkas Terror der wahren Natur des Sachverhaltes entspricht, den wir Bürokratie nennen«.8
Die Wandlung muß mehrere Leserbriefe zu Arendts Aufsatz bekommen haben, die nicht überliefert sind: »Es wird Sie übrigens interessieren, dass der Kafka-Aufsatz einigen Lesern zu einfach war«, schrieb Sternberger am 13. Februar 1947 an Arendt. »So ganz ohne Metaphysik und Religionsphilosophie – das hat man eben in Deutschland noch nicht gern. Ach ja! Gleichwohl ist es nach der allgemeinen Stimmung dabei geblieben, dass Hannah Arendt der Star der ›Wandlung‹ ist.«9
Einer dieser Leser war Hartwig von Behr,10 dem Sternberger am 13. Februar 1947 antwortete: »Was Sie zu dem Aufsatz von Hannah Arendt bemerken, hat mich sehr interessiert; die Autorin ist philosophisch tief und gründlich gebildet (sie studierte seinerzeit bei Karl Jaspers) und beschäftigt sich nun schon seit etwa 20 Jahren mit Kafka – ihre Tendenz in dem gegenwärtigen Essay war es gerade, einen elementaren Zugang zu eröffnen, wie es denn ja auch die eigentliche und verpflichtende Aufgabe einer literarischen Interpretation sein muss. Uebrigens werden die metaphysischen Verzweigungen hierdurch ja keineswegs versperrt. Uns erschien gerade diese Auslegung als ein neuer Anlauf und eine wahre Erfrischung des Verständnisses, nachdem das Werk Kafkas bisher vielfach als ein exegetischer und spekulativer Tummelplatz gedient hatte. Selbstverständlich wird dies nicht das letzte Wort über den Gegenstand sein – auch nicht in der ›Wandlung‹! Die überraschende Einfachheit der Deutung von Hannah Arendt werden Sie gewiss als das erkannt haben, was sie in der Tat ist: nämlich als eine erworbene, destillierte letzte Einfachheit.«11
In Hans Blumenbergs Rezension der Sechs Essays heißt es: »In einem eigenen Essay wird das Werk von Franz Kafka als die große Symbolik des Paria dargestellt. Noch nie ist so deutlich empfunden und ausgesprochen worden wie hier, aus welchem Schicksal Kafkas Gestalten letztlich erstanden. Der Mensch bei Kafka, der unter einer ihm unfaßbaren Schuld leidet, der, nach dem Heimischwerden lechzend, schließlich ohnmächtig und erschöpft ungeheuren Gewalten erliegt, – dieser Mensch, der Paria schlechthin, ist es, in dem die gegenwärtige Generation sich wiedererkennt.«12
Als Arendt ihren Vortrag schrieb, konnte sie nicht auf die Bücher von Kafka zurückgreifen, die sie vor 1933 in Deutschland gelesen hatte; ihre Bibliothek war zu dem Zeitpunkt noch in Paris.13 Erstaunlich ist allerdings, dass sich in Arendts nachgelassener Arbeitsbibliothek im Bard College nur zwei Bände finden, die vor ihrer Flucht aus Europa erschienen waren: In der Strafkolonie, 1919 von Kurt Wolff in Leipzig herausgegeben, und Ein Hungerkünstler, 1924 beim Verlag Die Schmiede in Berlin veröffentlicht. Schlecht vorstellbar, dass Arendt keinen der großen Romane besaß;14 wie auch der zitierte Brief Dolf Sternbergers bezeugt, hatte sie sich in der Weimarer Zeit mit Kafka befaßt. Wie selbstverständlich ging sie in ihren Lektüren davon aus, dass Max Brod die Romane seines Freundes in der Reihenfolge herausbrachte, in der sie entstanden waren: Zuerst Der Prozeß (1925), dann Das Schloß (1926) und zum Schluß Amerika (1927).
Ihren Vortrag schrieb Arendt wohl in New Yorker Bibliotheken, und vielleicht las sie die ersten englischen Übersetzungen, die Willa und Edwin Muir vorgelegt hatten. Als sie sich an die Arbeit machte, waren The Trial (1925), The Castle (1930), The Great Wall of China and Other Pieces (1930) sowie America (1938) in Londoner Verlagen erschienen. In den USA kamen diese Übersetzungen dann 1940 (America) und 1944 (The Trial) als Lizenzausgaben heraus. Für die Überarbeitung des deutschen Texts konnte Arendt sich auf Bände der Kafka-Ausgabe stützen, die gerade beim New Yorker Schocken Verlag erschienen war.
Barbara Hahn
1
Schedules, 1944. Entretiens de Pontigny records, Archives and Special Collections, Mount Holyoke College, South Hadley, MA. Vgl. auch Artists, Intellectuals, and World War II: The Pontigny Encounters at Mount Holyoke. Hg. von Christopher E. G. Benfey und Karen Remmler. Amhurst 2006.
2
Der nächste Absatz legt nahe, dass Rahv mit Arendt noch nicht näher bekannt war; er erinnert an ein Treffen im Büro des Contemporary Jewish Record, wo er gearbeitet hatte und »where we discussed the situation in Palestine and your projected article on it.« Doch nun »I have returned to my old love — Partisan Review.«
3
DLA, A: Sternberger. Wandlung. 74.10446 /1.
4
CG, Sternberger. Den Anfang hat Arendt für die Sechs Essays erheblich erweitert.
5
CG, Sternberger.
6
Arendt zeichnete für Kafkas Tagebücher verantwortlich.
7
Staatsarchiv Hamburg: 621-1 /144_2003.
8
Vgl. Franz Kafka, von neuem gewürdigt. Die Radioversion als Textvariante wird in der digitalen Ausgabe präsentiert.
9
CG, Sternberger.
10
Wir danken Burchard von Behr, der uns am 24. Mai 2018 mitteilte, dass der Adressat des Briefes sein Vater Dr. Hartwig von Behr war.
11
DLA, A: Sternberger. Brief von Dolf Sternberger, 13. Februar 1947. Signatur: 74.11033 /1 – Wandlung.
12
»Das Symbol des Paria. Sechs Essays von Hannah Ahrendt«. Die Welt. Nr. 135 vom 16. November 1948, 4.
13
Zu Arendts Bibliothek, vgl. das Nachwort in MCT, 835-837.
14
In Arendts Bibliothek findet sich der Prozeß in der Ausgabe von 1935, die Max Brod im Schocken Verlag in Berlin herausgegeben hatte, doch war dieses Buch damals noch nicht in ihrem Besitz. Vorn im Buch steht: »Kurt New York 4 /30 /45«.