Über den Imperialismus / Imperialism: Road to Suicide
Publikationen:
Imperialism: Road to Suicide. The Political Origins and Use of Racism, in: Commentary 1
(1945-1946), 27-35.
Über den Imperialismus, in: Die Wandlung 1 (1945-1946), 650-666.
Über den Imperialismus, in: Sechs Essays, 11-32.
Über den Imperialismus, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 12-31.
»Need I repeat that we think the article is far and way the best contribution
we have to our series — and probably the best article we will so far have printed
— in Commentary« schreibt Elliot Cohen, der Herausgeber von Commentary,
im Dezember 1945 an Arendt über deren Aufsatz »Imperialism«, der
wenige Monate später in der Zeitschrift erscheinen wird.1 Es handelte sich um
das Publikationsorgan des American Jewish Committee, das 1945 als Nachfolger
des Contemporary Jewish Record neugegründet worden war. Arendt
stand mit der jüdischen Organisation und ihrem Magazin spätestens seit
September 1943 in Kontakt2 und hatte dort bereits »Concerning Minorities«3
(August 1944) und »The Statesless People«4 (April 1945) veröffentlicht.
In den folgenden Jahren werden noch zahlreiche Artikel und Rezensionen
Arendts zu politischen Zeitfragen in Commentary veröffentlicht, bevor
sich das Verhältnis zum Magazin und seinem Herausgeber Ende der 1940er
Jahre zwischenzeitlich abkühlt. Dennoch blieben Arendt und Cohen bis zu
dessen Selbstmord 1959 freundschaftlich verbunden. 1958 schreibt Arendt
rückblickend:
»I have always considered myself a friend of Commentary and
when I occasionally found myself in disagreement with Elliot Cohen’s opinions,
some years ago it remained a matter of honest dissent within the limits
of mutual respect and good will.«5
Im Dezember 1945 verständigen sich Arendt und Cohen telefonisch über
das noch titellose Manuskript zum Imperialismus, den ersten Artikel für das
soeben umbenannte Magazin. Cohen kondensiert die Gesprächsergebnisse in
einem Memorandum, das auf den 24. Dezember datiert ist. In vier Punkten
fasst er seine Anmerkungen zusammen: Erstens hebt er hervor, wie »extremly
important« der Artikel sei und dass alle nachfolgenden
»suggestions« allein auf den »highest amount of impact on the right kind of reader« zielten.
Zweitens bittet Cohen um ergänzende Paragraphen oder Seiten; ein Aspekt,
dem Arendt bereits telefonisch zugestimmt habe. Drittens schlägt er vor,
insbesondere die Ausführungen zu Hobbes’ Philosophie zu kürzen, die für
einen Zeitschriftenartikel »over-full« seien – nicht aber für ein Buch, wie er
anmerkt. Viertens bemängelt er einige Redundanzen, die »the elimination
of hypocrisis« und die »consequences of imperialism in its latest stages«
beträfen. Schließlich bekundet er erneut seinen Respekt und versichert: »The
final decision in this is yours.« Handschriftlich fügt Cohen hinzu: »Also how
about a title?«6 Aufgrund der Überlieferungslage ist es nicht im Detail rekonstruierbar,
inwieweit Arendt auf Cohens Kommentare einging.
Die Veröffentlichung in der Februarausgabe des Commentary war als
dritter Beitrag einer großen Artikelserie mit dem Titel »The Crisis of the Individual«
angekündigt worden, die sich an den Leitfragen »Why?«, »Where
did Western civilization go wrong?« und »Is the crisis due to the abuse of
technology, the failure of religion — or what?« orientierte. »(L)eading thinkers
here and abroad« stellten ihre Antworten zur Diskussion, darunter Leo S.
Baeck, Martin Buber, Pearl S. Buck, John Dewey, Waldo Frank, Louis Finkelstein,
André Gide, Sidney Hook und Hans Kohn. In den Ausgaben zuvor hatten
Reinhold Niebuhr mit »Can Civilization Survive Technics?« (12 /45) und
Leo Loewenthal mit »Atomization of Man« (1 /46) die Debatte angestoßen.
Die Reaktionen auf die englische Erstveröffentlichung von Arendts Aufsatz
waren, sofern sie überliefert sind, wohlwollend bis enthusiastisch. Die
beiden Leserbriefe, die Commentary in den folgenden Ausgaben abdruckte,
äußern Anerkennung für die hohe Qualität des Magazins, für die Arendts
Imperialismus-Aufsatz exemplarisch einstehe.7 In der Mai-Ausgabe meldete
sich der afro-amerikanische Publizist Elmer A. Carter zu Wort, Direktor der
State Commission Against Discrimination, einer Behörde, die 1945 ins Leben
gerufen worden war, um die Antidiskriminierungsgesetze durchzusetzen, die
New York als erster amerikanischer Staat erlassen hatte. Carter hebt zwei Artikel
der Februar-Ausgabe hervor: Kenneth B. Clarks Artikel »Candor About Negro-Jewish Relations« sowie Arendts Aufsatz, den er als »an amazing
dissection of the nerve centers of imperialism« würdigt.8
Mitte Juni 1946 sendet Arendt den Aufsatz an Dolf Sternberger. Am 22.
Juni schreibt dieser an Jaspers: »Hannah Arendt teilte mir mit, dass dieses
Manuskript als Originalbeitrag aufgefasst werden kann, da sie die englische
Fassung, die für eine amerikanische Zeitschrift bestimmt war, vollständig neu
geschrieben habe.« (JaPU, 655) Das lässt darauf schließen, dass Arendt den
Aufsatz zuerst auf Deutsch verfasst hat, wahrscheinlich vor dem Dezember
1945. »Ihre beiden Manuskripte, die Sternberger erhielt, haben uns wieder
ungemein gefesselt«, schreibt Jaspers Ende Juni 1946 zurück.9 Im August
erscheint »Über den Imperialismus« in der Wandlung.
Im direkten Vergleich der deutschen und englischen Fassungen zeigen
sich substanzielle Unterschiede, die sowohl die Komposition des Textes als
auch die Begrifflichkeiten und Referenzen betreffen.10 Während der deutsche
Aufsatz zu Beginn eine historische Perspektive einnimmt, stellt Arendt dem
englischen eine kurze Zusammenfassung der drei wesentlichen Prinzipien
des Imperialismus voraus – eine Rahmung, die möglicherweise auf Cohens
Anregung zurückgeht. Auch auf den letzten Seiten variieren beide Fassungen
erheblich: der deutsche Text vertieft die Kritik an Nihilismus und Nationalstaatlichkeit,
während der englische stärker auf den Nationalsozialismus
und die Vernichtung der Juden eingeht. Bemerkenswert ist zudem, wie unterschiedlich
Thomas Hobbes thematisiert wird: In der deutschen Fassung, die
generell die ideen- und politikgeschichtlichen Aspekte stärker akzentuiert,
weist die entsprechende Passage zehn Unterpunkte auf. Die englische hingegen
wird auf acht verdichtet; Punkt 8, der auf den Bruch mit der politischen
Tradition des Abendlandes verweist, fällt ganz weg – auch diese Raffung
könnte auf Cohens Kommentar zurückzuführen sein. Hieß es im Commentary
noch in Hobbes’ eigenen Worten »desire to power« (259), so wurde in
der Wandlung daraus »Wille zur Macht«; der Nietzsche-Bezug wurde durch
die aufgehobene Kursivierung in den Sechs Essays wieder gemildert. Auffällig
sind zudem die unterschiedlichen Referenzen hinsichtlich Diskursen und
Personen: Nur der englische Text etwa schreibt bestimmte Sichtweisen den
im anglo-amerikanischen Kontext so genannten »liberals« (254) zu, was die
deutsche Fassung offen lässt. Ein im deutschen Text wichtiger Hinweis auf
Lawrence von Arabien (26) beispielsweise fehlt im Englischen, der wiederum an zentraler Stelle Rosa Luxemburg (256) anführt, die im Deutschen nicht
genannt ist. Die Unterschiede, die hier ausgewählt und exemplarisch aufgezeigt
werden, gehen über Übersetzungsfragen im engeren Sinne hinaus. Sie
zeigen Spuren, die mit Arendts Um- und Weiterschreiben sowie der jeweiligen
Adressierung ihres Textes zu tun haben. Als Sternberger die Sechs Essays
publizierte, wurde keinerlei Überarbeitung des Textes vorgenommen.11 Im
vorletzten Absatz allerdings, wo Arendt eine argumentative Zuspitzung formuliert,
unterläuft bei der Drucklegung ein Fehler. In der Wandlung hieß es
noch: »Bis von dem deutschen Volke wirklich nur noch ›germanische Rassestämme‹,
von dem russischen nur noch Slawen […] übriggeblieben sind.« Der
Satz erscheint in den Sechs Essays zusammengeschoben und sinnentstellend:
»Bis von dem deutschen Volke wirklich nur noch Slawen […] übriggeblieben
sind«, zumal Arendt fortfährt: »Dies, und nichts sonst, wäre der Untergang
des Abendlandes.«
In Rezensionen der Sechs Essays wurde der Imperialismus-Aufsatz hervorgehoben:
»Wir lesen da Sätze von solcher geistigen Fülle und Prägnanz,
daß sie ganze gelehrte Kompendien aufwiegen«, schreibt Erich Müller-Gangloff.12
Eine weitere Kritik in der Neuen Zeit, dem Zentralorgan der
Ost-CDU, vom 20. Mai 1949 widmet dem Imperialismus-Aufsatz gar mehr
als ein Drittel des Rezensionstextes, den Gedankengang nachzeichnend vom
historischen Aufkommen des Mobs über die bürgerliche Weltanschauung bis
hin zur Warnung vor imperialistischen Tendenzen auch nach dem Sieg über
Nazi-Deutschland.13
Am 12. Juni 1946 wird Arendt von Mary B. Underwood vom Verlag
Houghton Mifflin kontaktiert. Sie sei auf deren Artikel in Nation und Commentary
aufmerksam geworden, wo sie gelesen habe, dass Arendt an einer
Monographie arbeite. Tatsächlich endet Arendts Autorenvita in Commentary:
»She is writing a book on imperialism.« Underwood bekundet starkes
Interesse an der Veröffentlichung. Eine rege Korrespondenz entspinnt
sich, und noch im Dezember wird ein Vertrag unterzeichnet; Anfang Januar
1947 bedankt sich Arendt bereits für die erste Vorschusszahlung.14
Drei Wochen später, am 23. Januar 1947, schickt sie eine Liste, die zwölf
publizierte Artikel verzeichnet, welche die Grundlage ihrer Imperialismus-Monographie
werden sollen. »Imperialism: Road to Suicide« steht darin
an siebter Stelle, als Scharnier zwischen den Artikeln zur jüdischen Geschichte und den Artikeln,
die den Imperialismus in Einzelaspekte auffalten.
Vier Jahre später und nach umfassender Erweiterung wird dieses
Projekt als The Origins of Totalitarianism bei Harcourt, Brace & Co.
erscheinen.
Als der Verleger Klaus Wagenbach im Juni 1964 Arendt kontaktiert, um
mit ihren Essays seinen neugegründeten Verlag zu eröffnen, zählt er den Imperialismus-Aufsatz neben »Organisierte Schuld« und »The Jew as Pariah«
zu den besonders relevanten Bestandteilen des geplanten Bandes. Arendt
äußert in ihrer Antwort vom 16. Juli Bedenken; doch zum Imperialismus-Aufsatz merkt sie an »man [müsste] zusehen, wie er sich mit Kapiteln in
meinem Buch über totale Herrschaft überschneidet.«15
Erst nach Arendts Tod im Dezember 1975 wird „Über den Imperialismus“
in Die verborgene Tradition wiederveröffentlich. Es ist nahezu ausgeschlossen,
dass Arendt noch Korrekturfahnen zu Gesicht bekam; die abgedruckte
Fassung entspricht der aus Sechs Essays – angepasst an die Orthographieregeln
des Verlags, dafür mit neuen Druckfehlern.16
Die unterschiedliche Kapitelgliederung – der deutsche Artikel weist vier nummerierte, der
englische hingegen acht betitelte Kapitel auf – ist wahrscheinlich auf eine redaktionelle
Entscheidung zurückzuführen.
Auf Seite 14 der Variante in Die Verborgene Tradition heißt es etwa: »innerhalb des
nationalen Terrorismus« statt »innerhalb des nationalen Territoriums«, und wenige Zeilen
darunter: »das Wien von Schönherr und Lueger« statt »das Wien von Schönerer und
Lueger«. Die Verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, 14.
Über den Imperialismus / Imperialism: Road to Suicide
Publikationen:
Imperialism: Road to Suicide. The Political Origins and Use of Racism, in: Commentary 1 (1945-1946), 27-35.
Über den Imperialismus, in: Die Wandlung 1 (1945-1946), 650-666.
Über den Imperialismus, in: Sechs Essays, 11-32.
Über den Imperialismus, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 12-31.
»Need I repeat that we think the article is far and way the best contribution we have to our series — and probably the best article we will so far have printed — in Commentary« schreibt Elliot Cohen, der Herausgeber von Commentary, im Dezember 1945 an Arendt über deren Aufsatz »Imperialism«, der wenige Monate später in der Zeitschrift erscheinen wird.1 Es handelte sich um das Publikationsorgan des American Jewish Committee, das 1945 als Nachfolger des Contemporary Jewish Record neugegründet worden war. Arendt stand mit der jüdischen Organisation und ihrem Magazin spätestens seit September 1943 in Kontakt2 und hatte dort bereits »Concerning Minorities«3 (August 1944) und »The Statesless People«4 (April 1945) veröffentlicht. In den folgenden Jahren werden noch zahlreiche Artikel und Rezensionen Arendts zu politischen Zeitfragen in Commentary veröffentlicht, bevor sich das Verhältnis zum Magazin und seinem Herausgeber Ende der 1940er Jahre zwischenzeitlich abkühlt. Dennoch blieben Arendt und Cohen bis zu dessen Selbstmord 1959 freundschaftlich verbunden. 1958 schreibt Arendt rückblickend:
»I have always considered myself a friend of Commentary and when I occasionally found myself in disagreement with Elliot Cohen’s opinions, some years ago it remained a matter of honest dissent within the limits of mutual respect and good will.«5
Im Dezember 1945 verständigen sich Arendt und Cohen telefonisch über das noch titellose Manuskript zum Imperialismus, den ersten Artikel für das soeben umbenannte Magazin. Cohen kondensiert die Gesprächsergebnisse in einem Memorandum, das auf den 24. Dezember datiert ist. In vier Punkten fasst er seine Anmerkungen zusammen: Erstens hebt er hervor, wie »extremly important« der Artikel sei und dass alle nachfolgenden »suggestions« allein auf den »highest amount of impact on the right kind of reader« zielten. Zweitens bittet Cohen um ergänzende Paragraphen oder Seiten; ein Aspekt, dem Arendt bereits telefonisch zugestimmt habe. Drittens schlägt er vor, insbesondere die Ausführungen zu Hobbes’ Philosophie zu kürzen, die für einen Zeitschriftenartikel »over-full« seien – nicht aber für ein Buch, wie er anmerkt. Viertens bemängelt er einige Redundanzen, die »the elimination of hypocrisis« und die »consequences of imperialism in its latest stages« beträfen. Schließlich bekundet er erneut seinen Respekt und versichert: »The final decision in this is yours.« Handschriftlich fügt Cohen hinzu: »Also how about a title?«6 Aufgrund der Überlieferungslage ist es nicht im Detail rekonstruierbar, inwieweit Arendt auf Cohens Kommentare einging.
Die Veröffentlichung in der Februarausgabe des Commentary war als dritter Beitrag einer großen Artikelserie mit dem Titel »The Crisis of the Individual« angekündigt worden, die sich an den Leitfragen »Why?«, »Where did Western civilization go wrong?« und »Is the crisis due to the abuse of technology, the failure of religion — or what?« orientierte. »(L)eading thinkers here and abroad« stellten ihre Antworten zur Diskussion, darunter Leo S. Baeck, Martin Buber, Pearl S. Buck, John Dewey, Waldo Frank, Louis Finkelstein, André Gide, Sidney Hook und Hans Kohn. In den Ausgaben zuvor hatten Reinhold Niebuhr mit »Can Civilization Survive Technics?« (12 /45) und Leo Loewenthal mit »Atomization of Man« (1 /46) die Debatte angestoßen. Die Reaktionen auf die englische Erstveröffentlichung von Arendts Aufsatz waren, sofern sie überliefert sind, wohlwollend bis enthusiastisch. Die beiden Leserbriefe, die Commentary in den folgenden Ausgaben abdruckte, äußern Anerkennung für die hohe Qualität des Magazins, für die Arendts Imperialismus-Aufsatz exemplarisch einstehe.7 In der Mai-Ausgabe meldete sich der afro-amerikanische Publizist Elmer A. Carter zu Wort, Direktor der State Commission Against Discrimination, einer Behörde, die 1945 ins Leben gerufen worden war, um die Antidiskriminierungsgesetze durchzusetzen, die New York als erster amerikanischer Staat erlassen hatte. Carter hebt zwei Artikel der Februar-Ausgabe hervor: Kenneth B. Clarks Artikel »Candor About Negro-Jewish Relations« sowie Arendts Aufsatz, den er als »an amazing dissection of the nerve centers of imperialism« würdigt.8
Mitte Juni 1946 sendet Arendt den Aufsatz an Dolf Sternberger. Am 22. Juni schreibt dieser an Jaspers: »Hannah Arendt teilte mir mit, dass dieses Manuskript als Originalbeitrag aufgefasst werden kann, da sie die englische Fassung, die für eine amerikanische Zeitschrift bestimmt war, vollständig neu geschrieben habe.« (JaPU, 655) Das lässt darauf schließen, dass Arendt den Aufsatz zuerst auf Deutsch verfasst hat, wahrscheinlich vor dem Dezember 1945. »Ihre beiden Manuskripte, die Sternberger erhielt, haben uns wieder ungemein gefesselt«, schreibt Jaspers Ende Juni 1946 zurück.9 Im August erscheint »Über den Imperialismus« in der Wandlung.
Im direkten Vergleich der deutschen und englischen Fassungen zeigen sich substanzielle Unterschiede, die sowohl die Komposition des Textes als auch die Begrifflichkeiten und Referenzen betreffen.10 Während der deutsche Aufsatz zu Beginn eine historische Perspektive einnimmt, stellt Arendt dem englischen eine kurze Zusammenfassung der drei wesentlichen Prinzipien des Imperialismus voraus – eine Rahmung, die möglicherweise auf Cohens Anregung zurückgeht. Auch auf den letzten Seiten variieren beide Fassungen erheblich: der deutsche Text vertieft die Kritik an Nihilismus und Nationalstaatlichkeit, während der englische stärker auf den Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden eingeht. Bemerkenswert ist zudem, wie unterschiedlich Thomas Hobbes thematisiert wird: In der deutschen Fassung, die generell die ideen- und politikgeschichtlichen Aspekte stärker akzentuiert, weist die entsprechende Passage zehn Unterpunkte auf. Die englische hingegen wird auf acht verdichtet; Punkt 8, der auf den Bruch mit der politischen Tradition des Abendlandes verweist, fällt ganz weg – auch diese Raffung könnte auf Cohens Kommentar zurückzuführen sein. Hieß es im Commentary noch in Hobbes’ eigenen Worten »desire to power« (259), so wurde in der Wandlung daraus »Wille zur Macht«; der Nietzsche-Bezug wurde durch die aufgehobene Kursivierung in den Sechs Essays wieder gemildert. Auffällig sind zudem die unterschiedlichen Referenzen hinsichtlich Diskursen und Personen: Nur der englische Text etwa schreibt bestimmte Sichtweisen den im anglo-amerikanischen Kontext so genannten »liberals« (254) zu, was die deutsche Fassung offen lässt. Ein im deutschen Text wichtiger Hinweis auf Lawrence von Arabien (26) beispielsweise fehlt im Englischen, der wiederum an zentraler Stelle Rosa Luxemburg (256) anführt, die im Deutschen nicht genannt ist. Die Unterschiede, die hier ausgewählt und exemplarisch aufgezeigt werden, gehen über Übersetzungsfragen im engeren Sinne hinaus. Sie zeigen Spuren, die mit Arendts Um- und Weiterschreiben sowie der jeweiligen Adressierung ihres Textes zu tun haben. Als Sternberger die Sechs Essays publizierte, wurde keinerlei Überarbeitung des Textes vorgenommen.11 Im vorletzten Absatz allerdings, wo Arendt eine argumentative Zuspitzung formuliert, unterläuft bei der Drucklegung ein Fehler. In der Wandlung hieß es noch: »Bis von dem deutschen Volke wirklich nur noch ›germanische Rassestämme‹, von dem russischen nur noch Slawen […] übriggeblieben sind.« Der Satz erscheint in den Sechs Essays zusammengeschoben und sinnentstellend: »Bis von dem deutschen Volke wirklich nur noch Slawen […] übriggeblieben sind«, zumal Arendt fortfährt: »Dies, und nichts sonst, wäre der Untergang des Abendlandes.«
In Rezensionen der Sechs Essays wurde der Imperialismus-Aufsatz hervorgehoben: »Wir lesen da Sätze von solcher geistigen Fülle und Prägnanz, daß sie ganze gelehrte Kompendien aufwiegen«, schreibt Erich Müller-Gangloff.12 Eine weitere Kritik in der Neuen Zeit, dem Zentralorgan der Ost-CDU, vom 20. Mai 1949 widmet dem Imperialismus-Aufsatz gar mehr als ein Drittel des Rezensionstextes, den Gedankengang nachzeichnend vom historischen Aufkommen des Mobs über die bürgerliche Weltanschauung bis hin zur Warnung vor imperialistischen Tendenzen auch nach dem Sieg über Nazi-Deutschland.13
Am 12. Juni 1946 wird Arendt von Mary B. Underwood vom Verlag Houghton Mifflin kontaktiert. Sie sei auf deren Artikel in Nation und Commentary aufmerksam geworden, wo sie gelesen habe, dass Arendt an einer Monographie arbeite. Tatsächlich endet Arendts Autorenvita in Commentary: »She is writing a book on imperialism.« Underwood bekundet starkes Interesse an der Veröffentlichung. Eine rege Korrespondenz entspinnt sich, und noch im Dezember wird ein Vertrag unterzeichnet; Anfang Januar 1947 bedankt sich Arendt bereits für die erste Vorschusszahlung.14
Drei Wochen später, am 23. Januar 1947, schickt sie eine Liste, die zwölf publizierte Artikel verzeichnet, welche die Grundlage ihrer Imperialismus-Monographie werden sollen. »Imperialism: Road to Suicide« steht darin an siebter Stelle, als Scharnier zwischen den Artikeln zur jüdischen Geschichte und den Artikeln, die den Imperialismus in Einzelaspekte auffalten. Vier Jahre später und nach umfassender Erweiterung wird dieses Projekt als The Origins of Totalitarianism bei Harcourt, Brace & Co. erscheinen.
Als der Verleger Klaus Wagenbach im Juni 1964 Arendt kontaktiert, um mit ihren Essays seinen neugegründeten Verlag zu eröffnen, zählt er den Imperialismus-Aufsatz neben »Organisierte Schuld« und »The Jew as Pariah« zu den besonders relevanten Bestandteilen des geplanten Bandes. Arendt äußert in ihrer Antwort vom 16. Juli Bedenken; doch zum Imperialismus-Aufsatz merkt sie an »man [müsste] zusehen, wie er sich mit Kapiteln in meinem Buch über totale Herrschaft überschneidet.«15
Erst nach Arendts Tod im Dezember 1975 wird „Über den Imperialismus“ in Die verborgene Tradition wiederveröffentlich. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Arendt noch Korrekturfahnen zu Gesicht bekam; die abgedruckte Fassung entspricht der aus Sechs Essays – angepasst an die Orthographieregeln des Verlags, dafür mit neuen Druckfehlern.16
Christian Pischel
1
Elliot Cohen an Arendt am 24. Dezember 1945. CP, Commentary.
2
CO, American Jewish Committee.
3
Contemporary Jewish Record 4 (1944), 353-368.
4
Contemporary Jewish Record 2 (1945), 137-153.
5
HA an David Sher am 1. Februar 1958. CP, Commentary.
6
Elliot Cohen an Arendt am 24. Dezember 1945. CP, Commentary.
7
Asher Brynes. »Poetry: Wanted«. Commentary 6 (1946), 92.
8
Elmer A. Carter. »Thought-Provoking«. Commentary 5 (1946), 90.
9
Jaspers an Arendt am 27. Oktober 1946. AJa, 80.
10
Die unterschiedliche Kapitelgliederung – der deutsche Artikel weist vier nummerierte, der englische hingegen acht betitelte Kapitel auf – ist wahrscheinlich auf eine redaktionelle Entscheidung zurückzuführen.
11
Lediglich die Kursivierungen in der ursprünglichen deutschen Veröffentlichung werden nicht reproduziert.
12
»Sechs von sieben Essays«. Neue Zeitung. 13. November 1949, ohne Seite.
13
ch. m. »Paria und Parvenü«. Neue Zeit, Nr. 117 vom 20. Mai 1949, 3.
14
CP, Houghton Mifflin.
15
Arendt an Wagenbach am 16. Juli 1964. CP, Verlag Klaus Wagenbach.
16
Auf Seite 14 der Variante in Die Verborgene Tradition heißt es etwa: »innerhalb des nationalen Terrorismus« statt »innerhalb des nationalen Territoriums«, und wenige Zeilen darunter: »das Wien von Schönherr und Lueger« statt »das Wien von Schönerer und Lueger«. Die Verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M. 1976, 14.