Die verborgene Tradition / The Jew as Pariah: A Hidden Tradition
Publikationen:
The Jew as Pariah: A Hidden Tradition, in: Jewish Social Studies 6 (1944), 99-122.
Die verborgene Tradition, in: Sechs Essays, 81-111.
Die verborgene Tradition, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 46-73.
Dieser Aufsatz war keine Auftragsarbeit. Im März 1943 hatte Arendt einen
dreiteiligen Essay mit dem Titel »Ausnahmejuden« fertiggestellt, dessen englische
Fassung sich im Archiv des Menorah Journals fand. Der siebzigseitige
Aufsatz wurde nie veröffentlicht; später arbeitete Arendt den Text in das
zweite Kapitel von »Antisemitism« in The Origins of Totalitarianism ein.
Die letzte Seite des Typoskripts entwirft als Fazit die Grundstruktur einer
»Verborgenen Tradition«. In scharfem Kontrast zur Geschichte der »Ausnahmejuden«
skizziert Arendt eine jüdische Tradition, die unsichtbar geblieben
sei: »Into this tradition belongs Heinrich Heine who in the ›Hebraeische
Melodien‹ described the pariah as the shlemihl of the real world and the ›absoluter
Traumweltsherrscher‹ in the world of poetry. Into it belongs Bernard
Lazare when he tried to stir up the ›conscious pariah‹ that he might rebel
against the ›princes des juifs‹. Into it belongs Charlie Chaplin who decades
before political events created the suspect, had played him, and won him the
laughing sympathies of the little fellows all over the world. Into this tradition
finally belongs the great prose of Franz Kafka’s ›The Castle‹ in which novel
the pariah, represented as stranger, shows his true face, the face of the man
of good will.«1 Während sie die »Ausnahmejuden« Kapitel für Kapitel ins
Englische übertrug, arbeitete Arendt ihren Gegenentwurf aus. In einem Brief an
Salomon Adler-Rudel in London vom 2. November 1943 heisst es: »An
essay about the ›hidden tradition‹ in Western Jewry (from Heine to Kafka)
in which I simply decided to write about all things Jewish of which I am
genuinely fond, may be printed by the Jewish Social Studies, but they could
not yet make up their minds to publish an article without any footnotes.«2
Wie aus dem Briefwechsel mit Salo Baron, dem Herausgeber der Jewish
Social Studies hervorgeht, hatte Arendt ihm den Aufsatz am 2. Oktober 1943
zugeschickt: »Ich erlaube mir, Ihnen beiliegend einen Artikel zur Durchsicht
zu senden, von dem es mir nicht klar ist, ob er in den Rahmen der Jewish
Social Studies passen wird. Vielleicht aber doch – und dann wuerde ich mich
sehr freuen.« Baron antwortete am 16. Oktober 1943: »I have read with considerable
interest your manuscript and should like to discuss it with you.«3
Der Aufsatz erschien im Frühjahr 1944, allerdings nicht ganz ohne Fußnoten.
Offenbar hatte Baron ein paar Änderungen vorgeschlagen. Im Unterschied
zur deutschen wird in der englischen Fassung das Hochzeitscarmen
von Jehuda ben Halevi übersetzt und die Quelle für die Geschichte von Simri
und Pinchas im Vierten Buch Moses angegeben. Hinter den zitierten Gedichten
von Heinrich Heine stehen in Klammern die Übersetzer; Namen und
Buchtitel, die amerikanischen Lesern nicht geläufig waren, fehlen.4
Auch wenn Arendt im zitierten Brief an Adler-Rudel einen englischen Titel
für ihren Aufsatz angibt, schrieb sie ihn zuerst in ihrer Muttersprache. Adler-Rudel lebte damals im Londoner Exil; mitten im Krieg durfte man keine auf
deutsch verfassten Briefe nach England schicken. In einem Brief von Dolf
Sternberger vom 11. Oktober 1946 ist von zwei »Originalfassungen« die
Rede, die Arendt ihm geschickt habe; einer dieser Aufsätze war »Die verborgene
Tradition« (JaPU, 658). Wie die englische Fassung zustande kam, die
sich von der deutschen vor allem im vierten Teil erheblich unterscheidet, ließ
sich nicht ermitteln.
In einem Sonderdruck des Aufsatzes änderte Arendt zwei Stellen (sie werden
in den entsprechenden Anmerkungen erläutert); auf das Deckblatt schrieb sie:
»cf. Outline Excursus to chapter 2.« Daraus läßt sich schließen, dass Arendt
die Korrekturen anfertigte, als sie im September 1946 einen Entwurf für ihr
geplantes Buch an Mary Underwood schickte. Denn dort wird dem zweiten
Kapitel, »The Exception Jews«, ein »Excursus to Chapter 2« beigegeben.5
Heine – Lazare – Chaplin – Kafka: Mit ihren vier Protagonisten wanderte
Arendt durch Sprachen und Kulturen. Sie schrieb den Aufsatz wie alle anderen
im vorliegenden Band ohne ihre Bibliothek. Doch wie sie zitiert, zeigt,
dass sie an Lektüren vor der Flucht aus Europa anknüpfte. In »Privileged
Jews«, zwei Jahre nach der »Verborgenen Tradition« entstanden und ebenfalls
in den Jewish Social Studies erschienen, entwirft Arendt ein »wir«, das
in der Weimarer Republik jüdische Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert las:
»While reading Heine and Börne, who just because as Jews they insisted on
being considered men and thus were incorporated into the universal history
of mankind, we forgot all about the tedious speeches of the representatives of
the special group of privileged Jews in Prussia at the same time.«6 Es ist anzunehmen,
dass Arendt damals auch einem anderen Heine begegnete. 1925
gab Hugo Bieber Confessio Judaica heraus, eine Sammlung, die Heines Texte
zum Judentum in den Mittelpunkt stellt. Die von Arendt zitierten Passagen
stimmen mit den hier präsentierten Texten überein. In ihrer Bibliothek ist
der Band nicht überliefert, doch findet sich dort eine erweiterte Ausgabe, die
1946, also nach Abschluß des Aufsatzes, unter dem Titel Jüdisches Manifest
in New York erschien.
Bücher von Bernard Lazare hat Arendt im Pariser Exil neu oder wieder
gelesen: Die zweibändige Ausgabe L’Antisémitisme, son histoire et ses causes
(1934) in ihrer Bibliothek zeigt Lesespuren und Randbemerkungen. In der
»Verborgenen Tradition« zitiert sie einen anderen Text von Lazare, »Le
nationalisme et l’émancipation juive«, der 1901 im Echo Sioniste erschienen
war. Als Arendt 1948 für den Schocken Verlag Job’s Dungheap, eine kleine
Sammlung von Lazares Arbeiten in englischer Übersetzung, herausgab, nahm
sie diesen Text mit auf.7 In welchen Ausgaben Arendt Kafka las, wird im
Kommentar zu »Franz Kafka« erläutert.8
Charlie Chaplin in »all things Jewish of which I am genuinely fond of«
aufzunehmen, war damals nicht ungewöhnlich. Dass Chaplin Jude war, stand
sogar im Jüdischen Lexikon, das Arendt wahrscheinlich noch in Deutschland
gekauft hatte: »geb. 1889 in London als Sohn einer Mitte des 19. Jhdts.
in England eingewanderten Ostjudenfamilie, die ursprünglich den Namen
Thonstein führte«.9 In seiner Autobiographie erklärte Chaplin später, dass
seine Vorfahren Iren und »gypsies« gewesen seien.10
»Sehr geehrte Frau, für die freundliche Uebersendung Ihrer Schrift ›The
Jew as Pariah. A Hidden Tradition‹ möchte ich Ihnen besonders danken,«
schreibt am 10. Juni 1944 Thomas Mann. »Ich habe ihn mit grossem Interesse
und Vergnügen gelesen und finde die Zusammenstellung der vier Träger
des Schlemihl- und Pariah-Pathos, Heine, B. Lazare, Chaplin und Kafka, so
geistvoll wie überraschend. Gehört aber nicht diese so verschiedentlich abgewandelte
Tragik und Tragikomik weitgehend in den allgemeinen Rahmen
des Künstlerproblems überhaupt, des sentimentalischen Verhältnisses des
Künstlers zur Welt, zur bürgerlichen Gesellschaft hinein, das mich in meiner
Jugend so stark beschäftigte? Ich musste beim Lesen Ihrer Abhandlung dann
und wann an den ›Tonio Kröger‹ denken mit seinem ›Verlangen nach den
»Wonnen« der Gewöhnlichkeit‹, das nur eine etwas anders akzentuierte und
gefärbte Abwandlung der K’schen Sehnsucht nach Einbürgerung im Dorfe
ist. Kafka liebte die Geschichte. Ueberhaupt erinnere ich mich, dass bei ihrem
ersten Erscheinen in der ›Neuen Deutschen Rundschau‹ es Juden waren, die
sie am herzlichsten begrüssten. Aber bei welcher Gelegenheit wären es nicht
die Juden gewesen, die etwas merkten! – Auch den ›Peter Schlemihl‹ selbst,
über den ich einmal einen Aufsatz verfasste, hat kein Jude geschrieben, sondern
ein germanisierter Franzose.«11 Ob Arendt auf diesen Brief geantwortet
hat, ist nicht bekannt; in den Nachlässen war nichts zu finden.
Auch ein zweiter Brief, der nicht auf die englische, sondern die deutsche
Version antwortet, spricht der »verborgenen Tradition« das »Jüdische« ab:
Am 28. Februar 1946 bedankt sich Dolf Sternberger »für die ›Verborgene
Tradition‹ und ›World of yesterday‹: Sie können sich gar nicht vorstellen, mit
welchem Grade von Bewunderung und herzlich-solidarischer Zustimmung ich
namentlich das erste gelesen habe. Lazare kannte ich nicht. Aber glauben Sie
mir: dies ist nicht allein die verborgene Tradition des Judentums, sondern, wie
ich aufs stärkste empfinde, der Menschlichkeit und Personalität überhaupt.«12
Gleich zweimal wird gerade das zum Verschwinden gebracht, was Arendt
herausstellen wollte. Auch auf diesen Brief ist keine Antwort überliefert.
American Jewish Archive. Henry Hurwitz Papers. 1905-1963. Hurwitz / Menorah.
Arendt, Hannah. Mss. 1942-1946. Box 1, Folder 17. In einem Artikel für den Aufbau
vom 28. November 1941 werden Heine, Kafka und Chaplin wohl zum ersten Mal zusammen
genannt: »Das Unglück der Juden, seit den Generalprivilegien der Hofjuden und
der Emanzipation der Ausnahmejuden, ist es gewesen, daß der Parvenu für die Geschichte
des Volkes entscheidender wurde als der Paria; daß Rothschild repräsentativer war als
Heine; daß die Juden auf irgendeinen jüdischen Ministerpräsidenten stolzer waren als auf
Kafka und Chaplin.«
CP, Houghton Mifflin. Der Sonderdruck findet sich in der Dobkin Family Collection of
Feminism, New York. Wir danken Sarah Funke Butler für ihre freundliche Unterstützung.
Sein Großvater mütterlicherseits sei »an Irish cobbler« aus Cork gewesen, die Großmutter »half gypsy. This fact was the skeleton in our family cupboard.« Über seinen Vater
schreibt Chaplin, er sei »a vaudevillian« gewesen. Chaplin, My Autobiography, 18-19.
CG, Thomas Mann. Mann hatte sich im März 1944 positiv über Arendts Artikel zu
Stefan Zweigs Autobiographie geäussert, vgl. 395-396; daraufhin schickte sie ihm wohl
»The Hidden Tradition«.
CG, Sternberger. Arendts Briefwechsel mit Sternberger wird im Herbst 2019, herausgegeben
von Udo Bermbach, bei Rowohlt Berlin erscheinen. Leider ist der »lange« Brief
verloren gegangen, den Jaspers wahrscheinlich um dieselbe Zeit über den Essay geschrieben
hat. »Er liegt auch schon Monate zurück«, so Jaspers am 18. September 1946. AJa,
92. Dass Jaspers den Text bekommen hatte, geht auch aus seinem Brief vom 23. Oktober
1946 hervor, in dem er auf »Heine nach Ihrer Charakteristik« anspielt. AJa, 100.
Die verborgene Tradition / The Jew as Pariah: A Hidden Tradition
Publikationen:
The Jew as Pariah: A Hidden Tradition, in: Jewish Social Studies 6 (1944), 99-122.
Die verborgene Tradition, in: Sechs Essays, 81-111.
Die verborgene Tradition, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays, 46-73.
Dieser Aufsatz war keine Auftragsarbeit. Im März 1943 hatte Arendt einen dreiteiligen Essay mit dem Titel »Ausnahmejuden« fertiggestellt, dessen englische Fassung sich im Archiv des Menorah Journals fand. Der siebzigseitige Aufsatz wurde nie veröffentlicht; später arbeitete Arendt den Text in das zweite Kapitel von »Antisemitism« in The Origins of Totalitarianism ein. Die letzte Seite des Typoskripts entwirft als Fazit die Grundstruktur einer »Verborgenen Tradition«. In scharfem Kontrast zur Geschichte der »Ausnahmejuden« skizziert Arendt eine jüdische Tradition, die unsichtbar geblieben sei: »Into this tradition belongs Heinrich Heine who in the ›Hebraeische Melodien‹ described the pariah as the shlemihl of the real world and the ›absoluter Traumweltsherrscher‹ in the world of poetry. Into it belongs Bernard Lazare when he tried to stir up the ›conscious pariah‹ that he might rebel against the ›princes des juifs‹. Into it belongs Charlie Chaplin who decades before political events created the suspect, had played him, and won him the laughing sympathies of the little fellows all over the world. Into this tradition finally belongs the great prose of Franz Kafka’s ›The Castle‹ in which novel the pariah, represented as stranger, shows his true face, the face of the man of good will.«1 Während sie die »Ausnahmejuden« Kapitel für Kapitel ins Englische übertrug, arbeitete Arendt ihren Gegenentwurf aus. In einem Brief an Salomon Adler-Rudel in London vom 2. November 1943 heisst es: »An essay about the ›hidden tradition‹ in Western Jewry (from Heine to Kafka) in which I simply decided to write about all things Jewish of which I am genuinely fond, may be printed by the Jewish Social Studies, but they could not yet make up their minds to publish an article without any footnotes.«2
Wie aus dem Briefwechsel mit Salo Baron, dem Herausgeber der Jewish Social Studies hervorgeht, hatte Arendt ihm den Aufsatz am 2. Oktober 1943 zugeschickt: »Ich erlaube mir, Ihnen beiliegend einen Artikel zur Durchsicht zu senden, von dem es mir nicht klar ist, ob er in den Rahmen der Jewish Social Studies passen wird. Vielleicht aber doch – und dann wuerde ich mich sehr freuen.« Baron antwortete am 16. Oktober 1943: »I have read with considerable interest your manuscript and should like to discuss it with you.«3
Der Aufsatz erschien im Frühjahr 1944, allerdings nicht ganz ohne Fußnoten. Offenbar hatte Baron ein paar Änderungen vorgeschlagen. Im Unterschied zur deutschen wird in der englischen Fassung das Hochzeitscarmen von Jehuda ben Halevi übersetzt und die Quelle für die Geschichte von Simri und Pinchas im Vierten Buch Moses angegeben. Hinter den zitierten Gedichten von Heinrich Heine stehen in Klammern die Übersetzer; Namen und Buchtitel, die amerikanischen Lesern nicht geläufig waren, fehlen.4 Auch wenn Arendt im zitierten Brief an Adler-Rudel einen englischen Titel für ihren Aufsatz angibt, schrieb sie ihn zuerst in ihrer Muttersprache. Adler-Rudel lebte damals im Londoner Exil; mitten im Krieg durfte man keine auf deutsch verfassten Briefe nach England schicken. In einem Brief von Dolf Sternberger vom 11. Oktober 1946 ist von zwei »Originalfassungen« die Rede, die Arendt ihm geschickt habe; einer dieser Aufsätze war »Die verborgene Tradition« (JaPU, 658). Wie die englische Fassung zustande kam, die sich von der deutschen vor allem im vierten Teil erheblich unterscheidet, ließ sich nicht ermitteln.
In einem Sonderdruck des Aufsatzes änderte Arendt zwei Stellen (sie werden in den entsprechenden Anmerkungen erläutert); auf das Deckblatt schrieb sie: »cf. Outline Excursus to chapter 2.« Daraus läßt sich schließen, dass Arendt die Korrekturen anfertigte, als sie im September 1946 einen Entwurf für ihr geplantes Buch an Mary Underwood schickte. Denn dort wird dem zweiten Kapitel, »The Exception Jews«, ein »Excursus to Chapter 2« beigegeben.5 Heine – Lazare – Chaplin – Kafka: Mit ihren vier Protagonisten wanderte Arendt durch Sprachen und Kulturen. Sie schrieb den Aufsatz wie alle anderen im vorliegenden Band ohne ihre Bibliothek. Doch wie sie zitiert, zeigt, dass sie an Lektüren vor der Flucht aus Europa anknüpfte. In »Privileged Jews«, zwei Jahre nach der »Verborgenen Tradition« entstanden und ebenfalls in den Jewish Social Studies erschienen, entwirft Arendt ein »wir«, das in der Weimarer Republik jüdische Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert las: »While reading Heine and Börne, who just because as Jews they insisted on being considered men and thus were incorporated into the universal history of mankind, we forgot all about the tedious speeches of the representatives of the special group of privileged Jews in Prussia at the same time.«6 Es ist anzunehmen, dass Arendt damals auch einem anderen Heine begegnete. 1925 gab Hugo Bieber Confessio Judaica heraus, eine Sammlung, die Heines Texte zum Judentum in den Mittelpunkt stellt. Die von Arendt zitierten Passagen stimmen mit den hier präsentierten Texten überein. In ihrer Bibliothek ist der Band nicht überliefert, doch findet sich dort eine erweiterte Ausgabe, die 1946, also nach Abschluß des Aufsatzes, unter dem Titel Jüdisches Manifest in New York erschien.
Bücher von Bernard Lazare hat Arendt im Pariser Exil neu oder wieder gelesen: Die zweibändige Ausgabe L’Antisémitisme, son histoire et ses causes (1934) in ihrer Bibliothek zeigt Lesespuren und Randbemerkungen. In der »Verborgenen Tradition« zitiert sie einen anderen Text von Lazare, »Le nationalisme et l’émancipation juive«, der 1901 im Echo Sioniste erschienen war. Als Arendt 1948 für den Schocken Verlag Job’s Dungheap, eine kleine Sammlung von Lazares Arbeiten in englischer Übersetzung, herausgab, nahm sie diesen Text mit auf.7 In welchen Ausgaben Arendt Kafka las, wird im Kommentar zu »Franz Kafka« erläutert.8
Charlie Chaplin in »all things Jewish of which I am genuinely fond of« aufzunehmen, war damals nicht ungewöhnlich. Dass Chaplin Jude war, stand sogar im Jüdischen Lexikon, das Arendt wahrscheinlich noch in Deutschland gekauft hatte: »geb. 1889 in London als Sohn einer Mitte des 19. Jhdts. in England eingewanderten Ostjudenfamilie, die ursprünglich den Namen Thonstein führte«.9 In seiner Autobiographie erklärte Chaplin später, dass seine Vorfahren Iren und »gypsies« gewesen seien.10
»Sehr geehrte Frau, für die freundliche Uebersendung Ihrer Schrift ›The Jew as Pariah. A Hidden Tradition‹ möchte ich Ihnen besonders danken,« schreibt am 10. Juni 1944 Thomas Mann. »Ich habe ihn mit grossem Interesse und Vergnügen gelesen und finde die Zusammenstellung der vier Träger des Schlemihl- und Pariah-Pathos, Heine, B. Lazare, Chaplin und Kafka, so geistvoll wie überraschend. Gehört aber nicht diese so verschiedentlich abgewandelte Tragik und Tragikomik weitgehend in den allgemeinen Rahmen des Künstlerproblems überhaupt, des sentimentalischen Verhältnisses des Künstlers zur Welt, zur bürgerlichen Gesellschaft hinein, das mich in meiner Jugend so stark beschäftigte? Ich musste beim Lesen Ihrer Abhandlung dann und wann an den ›Tonio Kröger‹ denken mit seinem ›Verlangen nach den »Wonnen« der Gewöhnlichkeit‹, das nur eine etwas anders akzentuierte und gefärbte Abwandlung der K’schen Sehnsucht nach Einbürgerung im Dorfe ist. Kafka liebte die Geschichte. Ueberhaupt erinnere ich mich, dass bei ihrem ersten Erscheinen in der ›Neuen Deutschen Rundschau‹ es Juden waren, die sie am herzlichsten begrüssten. Aber bei welcher Gelegenheit wären es nicht die Juden gewesen, die etwas merkten! – Auch den ›Peter Schlemihl‹ selbst, über den ich einmal einen Aufsatz verfasste, hat kein Jude geschrieben, sondern ein germanisierter Franzose.«11 Ob Arendt auf diesen Brief geantwortet hat, ist nicht bekannt; in den Nachlässen war nichts zu finden. Auch ein zweiter Brief, der nicht auf die englische, sondern die deutsche Version antwortet, spricht der »verborgenen Tradition« das »Jüdische« ab: Am 28. Februar 1946 bedankt sich Dolf Sternberger »für die ›Verborgene Tradition‹ und ›World of yesterday‹: Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Grade von Bewunderung und herzlich-solidarischer Zustimmung ich namentlich das erste gelesen habe. Lazare kannte ich nicht. Aber glauben Sie mir: dies ist nicht allein die verborgene Tradition des Judentums, sondern, wie ich aufs stärkste empfinde, der Menschlichkeit und Personalität überhaupt.«12 Gleich zweimal wird gerade das zum Verschwinden gebracht, was Arendt herausstellen wollte. Auch auf diesen Brief ist keine Antwort überliefert.
Barbara Hahn
1
American Jewish Archive. Henry Hurwitz Papers. 1905-1963. Hurwitz / Menorah. Arendt, Hannah. Mss. 1942-1946. Box 1, Folder 17. In einem Artikel für den Aufbau vom 28. November 1941 werden Heine, Kafka und Chaplin wohl zum ersten Mal zusammen genannt: »Das Unglück der Juden, seit den Generalprivilegien der Hofjuden und der Emanzipation der Ausnahmejuden, ist es gewesen, daß der Parvenu für die Geschichte des Volkes entscheidender wurde als der Paria; daß Rothschild repräsentativer war als Heine; daß die Juden auf irgendeinen jüdischen Ministerpräsidenten stolzer waren als auf Kafka und Chaplin.«
2
Hannah Arendt / Salomon Adler-Rudel. Briefwechsel in den Originalsprachen. Zitiert nach: http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/72/108.
3
Stanford Archives. Salo W. Baron Papers. Series 1, Box 14, Folder 5.
4
Hermann Cohen und Anatole France werden nicht genannt; bei einem Zitat aus dem Rabbi von Bacherach fehlt der Titel des Buches, vgl. 191.
5
CP, Houghton Mifflin. Der Sonderdruck findet sich in der Dobkin Family Collection of Feminism, New York. Wir danken Sarah Funke Butler für ihre freundliche Unterstützung.
6
Arendt, Privileged Jews, 6.
7
Bernard Lazare. Jobs Dungheap. Hg. und mit einem Vorwort von Hannah Arendt. New York 1948. 80-107.
8
Vgl. Kommentar zu »Franz Kafka, von Neuem gewürdigt«.
9
Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens. Hg. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner. Bd. I. Berlin 1927. Spalte 1329.
10
Sein Großvater mütterlicherseits sei »an Irish cobbler« aus Cork gewesen, die Großmutter »half gypsy. This fact was the skeleton in our family cupboard.« Über seinen Vater schreibt Chaplin, er sei »a vaudevillian« gewesen. Chaplin, My Autobiography, 18-19.
11
CG, Thomas Mann. Mann hatte sich im März 1944 positiv über Arendts Artikel zu Stefan Zweigs Autobiographie geäussert, vgl. 395-396; daraufhin schickte sie ihm wohl »The Hidden Tradition«.
12
CG, Sternberger. Arendts Briefwechsel mit Sternberger wird im Herbst 2019, herausgegeben von Udo Bermbach, bei Rowohlt Berlin erscheinen. Leider ist der »lange« Brief verloren gegangen, den Jaspers wahrscheinlich um dieselbe Zeit über den Essay geschrieben hat. »Er liegt auch schon Monate zurück«, so Jaspers am 18. September 1946. AJa, 92. Dass Jaspers den Text bekommen hatte, geht auch aus seinem Brief vom 23. Oktober 1946 hervor, in dem er auf »Heine nach Ihrer Charakteristik« anspielt. AJa, 100.